Liebesroman «Wintermärchen»

Sympathische Helden. Ein bezaubernder Ort. Liebenswerte Tiere.

Dancing Coons, eine Kleinstadt im Adirondacks-Gebirge.

​Ausgerechnet zum Start der turbulenten Wintersaison steht Chief Betty, Undersheriff von Coon County, ohne Stellvertreter da. Als eine unerwartete Bewerbung eintrifft, vergibt sie die Position, ohne den Kandidaten je gesehen zu haben — und arbeitet plötzlich mit ihrem absoluten Traummann zusammen. Dark Chayton ist attraktiv, integer und kann mit Tieren sprechen. So ein Mann gehört nach Coon County, da sind sich Betty und die Einheimischen sicher. Doch um die düsteren Wolken über seinem Schicksal zu vertreiben, braucht es den Einsatz aller, Unmengen von Glück und eine Prise der einzigartigen Coon-County-Magie. 

«Wintermärchen: Dancing Coons» erzählt eine humorvolle und romantische Wohlfühlliebesgeschichte für Erwachsene. Sie spielt an einem Ort zum Verlieben, dessen Einwohner bedingungslos zusammenhalten. Wer sympathische Protagonisten, Hunde, Katzen, Stinktiere und die wilde Natur liebt und vom Leben in einer amerikanischen Kleinstadt träumt, kann mit diesem Buch eine wundervolle kleine Auszeit genießen.

Der Roman ist in sich abgeschlossen.

 

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LESEPROBE

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Isa Day

Wintermärchen

Dancing Coons

Pongü

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1. Auflage 2021

© 2021 Isa Day und Pongü Text & Design GmbH, Meilen, Schweiz

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Isa Day

ISBN 978-3-906868-40-0 (eBook)

 

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Kapitel 1

Elizabeth Mary Jane Hellfire Warner, von den meisten Chief Betty genannt, schloss leise die Haustür und starrte mit leerem Blick den dunklen Flur in Richtung Küche hinab. Als Undersheriff von Coon County, einem Bezirk im hintersten Winkel des Staates New York, war sie stets für andere da. Zu ihrem Job gehörte es, das positive Verhalten der Menschen zu verstärken und bei Problemen rechtzeitig dazwischen zu gehen.

Für ihr eigenes Problem wusste sie keine Lösung. Ein unglaublicher Schmerz riss ihr Herz entzwei. Ihr Kopf war leer und hallte wie nach dem Bombenanschlag, den sie während ihrer Zeit bei der New Yorker Polizei miterlebt hatte.

In Zeitlupe hob sie die Hand und starrte auf die Leine und das leere Halsband, die sie mit einem Todesgriff umklammerte.

Draußen war es stockfinster. Anfang Dezember brauchte die Dämmerung lange, um in das dicht bewaldete Seitental, wo Bettys Hexenhäuschen stand, vorzudringen. Nur die Straßenlaterne direkt vor dem Grundstück verbreitete ein sanftes, gelbliches Licht.

Es ließ die Reflektoren auf dem neongelben Halsband aufleuchten. Fast konnte Betty die großen, schwarz aufgedruckten Buchstaben lesen.

Boots.

So vergeben, weil die Pfoten und Schienbeine des nicht reinrassigen Belgischen Schäferhundes eine weiße Zeichnung wie Stiefel trugen — nein, getragen hatten.

Betty schluchzte und biss sich auf die Fingerknöchel, um das Geräusch zu ersticken. Leider nutzte sie dafür die Hand, in der sie Halsband und Leine hielt.

Der Geruch ihres Hundes erfüllte ihre Nase. Wild, herb und zugleich der Duft von Vertrauen und tiefer Zuneigung.

Was war das für ein Wimmern?

Betty erkannte, dass sie selbst es ausstieß. Es klang wie das leidvolle Heulen einer verlorenen Seele.

Kraftlos schob sie sich von der Haustür weg, hin zum Schrank, in den sie bei jedem Heimkommen ihre Jacke hängte und ihre Stiefel stellte.

Sie arbeitete als Undersheriff dieses Bezirks. Für sie gab es keine Schwäche. In einer Stunde musste sie das Haus verlassen und vor den Einwohnern von Dancing Coons und Lake Coon funktionieren. Das war ihre Pflicht. Dafür wurde sie bezahlt.

Ihre Kontrolle versagte. Die Beine gaben unter ihr nach. Betty sank zu Boden, faltete die Arme auf den Knien, legte den Kopf obendrauf und weinte hemmungslos.

Ein leises Klopfen mischte sich in ihr Schluchzen. Mit einem Klicken öffnete sich die Haustür.

«Betty? Bitte nicht schießen. Ich bin es — Josie.»

Betty versuchte sich zusammenzureißen. Ein Warner zeigte keine Schwäche, das hatte ihr Vater all seinen Kindern kompromisslos eingebläut.

Ihre Erziehung versagte. Sie saß in einem unendlich tiefen schwarzen Loch, das sie zu ersticken drohte und aus dem es kein Entkommen gab.

«Es tut mir so unendlich leid.»

Arme legten sich um Betty und hielten sie. Sie spürte die Wärme und Fürsorge eines anderen Menschen. Ihre Hand krallte sich in Josies Rücken. Wieso konnte sie den Griff nicht lockern? Das musste doch furchtbar wehtun …

Der Weinkrampf ebbte nach und nach ab. Der grenzenlose Schmerz blieb.

Betty hob den Kopf.

Auch Josies Augen überliefen mit Tränen. Kein Wunder. Bettys junger Nachbarin gehörte ein wunderbares Katzenrudel. Von allen Menschen verstand sie am besten, was es bedeutete, mit einem Tier eine tiefe Beziehung einzugehen. Und welchen Schmerz der Verlust eben dieses Tieres verursachte.

«Bist du allen Ernstes im Schlafanzug rübergekommen?», fragte Betty. Auf die Worte folgte das Hicks eines Schluckaufs. Großartig! Als ob der Weinkrampf nicht gereicht hätte.

Josie schaute verdutzt an sich hinab. «Offenbar. Ich habe nicht nachgedacht. Ash sah dich nach Hause kommen. Na ja, eigentlich hast du ihn mit deinem Truck fast von der Straße gedrängt. Da wusste er, dass etwas nicht stimmt, und rief mich an. Er wäre jetzt ebenfalls hier, aber die Biber im Seitenarm vom Coon Creek haben offenbar über Nacht und trotz der Winterruhe ihre Burg vergrößert, sodass sich das Wasser gefährlich staut.»

Betty nickte matt.

Wenigstens fiel dieser Einsatz nicht in die Zuständigkeit des Sheriff’s Departments, sondern wurde von der Feuerwehr und Bettys Brüdern geleistet. Letztere betrieben als Warner & Sons das regionale Straßenbau-, Entsorgungs- und Recyclingunternehmen und verfügten deshalb über schwere Maschinen.

Josie zog den Ärmel ihres Schlafanzugs über die Hand und wischte vorsichtig Bettys Wangen trocken. Die Berührung fühlte sich tröstend an, auch wenn Betty keine Dankbarkeit zeigen konnte.

«Wenn du mir erlaubst, in deiner Küche zu hantieren, mache ich dir einen Kaffee.»

Kaffee? Ach ja, das schwarze Zeugs, das First Responder wie Polizei und Feuerwehr literweise tranken.

«Als ob du einen richtigen Kaffee hinbekommst», spottete Betty. «Behördenkaffee muss so stark sein, dass er den Löffel zerfrisst.»

Josies Mundwinkel wanderten nach oben, doch ihre Augen blieben traurig und erfüllt von tiefer Empathie. «Ich werde mein Bestes geben. Jetzt komm. Im Dezember ist dein Steinboden zu kalt, um lange darauf zu sitzen.»

Josie erhob sich und fasste Betty unter den Achseln, um ihr auf die Füße zu helfen.

Um ein Haar hätte Betty erneut aufgeschluchzt. Als ob dieses Manöver funktionieren könnte! Josie war gerade mal mittelgroß, Betty eine Amazone, die die meisten Männer überragte.

Praktisch für ihren Job als Undersheriff, weil sich kaum jemand mit ihr anlegte, aber tödlich für ihr Liebesleben.

«Geh du schon einmal vor. Ich ziehe meine Stiefel aus und komme nach.»

Josie zögerte kurz, schlüpfte aus ihren Korksandalen — hatte sie allen Ernstes nicht mal richtige Schuhe angezogen? — und gehorchte.

Betty streifte ihre Stiefel ab und verstaute sie im Garderobenschrank. Ihre Jacke behielt sie an. Ihr war kalt.

In der Küche setzte sie sich an den Tisch und legte Leine und Halsband vor sich hin.

Josie hatte das Licht eingeschaltet und hantierte mit der Kaffeemaschine. Bald verbreitete sich der unvergleichliche Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee.

Josie stellte Betty eine volle Tasse hin. Ihre eigene hatte sie nur halb gefüllt. Vorsichtig nippte sie daran, verzog das Gesicht und goss heißes Wasser nach.

Betty trank einen Schluck. «Nicht übel. Etwas mild.»

Josies entsetzter Gesichtsausdruck brachte sie fast zum Lachen. Bis ihr Blick auf Halsband und Leine fiel und ihr die Realität wieder bewusst wurde.

Boots, ihr wundervoller Hund, war tot.

Josie setzte sich an den Tisch. «Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?»

Mit zitternden Fingern strich Betty über den Griff ihrer Tasse. «Du weißt ja, dass Boots schon lange kränklich war. Sechzehn Jahre sind für einen Malinois ein biblisches Alter. In der Nacht fiel er einfach um. Er zitterte und konnte nicht mehr aufstehen. Da brachte ich ihn in die Tierklinik nach Saratoga Springs. Leider konnten sie ihm nicht mehr helfen.»

Eine neue Träne lief über Josies Wange. «Das tut mir so leid.» Ihr Blick fiel auf die Leine. «Wo … wo ist er?»

«Die Tierklinik wird ihn einäschern. Und danach … Auch in Rente behielt er seinen Status als Polizeiangehöriger und wird in Saratoga Springs mit allen Ehren verabschiedet. Nach dem Anlass bringe ich ihn nach Hause.» Eine Welle der Übelkeit raste durch Bettys Körper, als sie sich an eine drängende Pflicht erinnerte. Sie schaute auf die Uhr. «Ich muss Kerrick anrufen. Nicht dass die Tierklinik mir zuvorkommt. Er wird am Boden zerstört sein.» Bettys Blick fiel auf die Futtertonne neben der Küchenzeile. «Und was mache ich jetzt mit Boots’ Futter? Ich habe erst vor Tagen einen Zehn-Kilo-Sack gekauft. Das muss ich dem Tierheim spenden …»

Sie stoppte ihren Wortschwall. Es war der Schock, der ihre Gedanken wild herumspringen ließ und ihre Prioritäten durcheinanderwirbelte. Damit verhielt sie sich wie jene Einbruchsopfer, die vor dem Eintreffen der Polizei ihre Wohnung aufzuräumen begannen, weil sie den Beamten die Unordnung ersparen wollten.

Selbst sie — Deputy Sheriff, gut ausgebildet und abgebrüht — war nur ein Mensch wie alle anderen. Der Gedanke erschien ihr zugleich ernüchternd und tröstlich.

«Weshalb rufst du ihn nicht jetzt gleich an?», schlug Josie vor. «Ich würge noch eine Weile an meiner Tasse Kaffee — oder gieße die dreifache Menge an heißem Wasser nach. Das ist die bessere Idee.» Sie erhob sich.

Betty beobachtete mit einem liebevollen Schmunzeln, wie sie ihr Getränk genießbar zu machen versuchte. Es war ein Glücksfall, dass Josie vor einiger Zeit nach Dancing Coons zurückgekehrt war und im Haus direkt über die Straße lebte. Und doch nicht immer einfach.

Mal abgesehen von Josies Schusseligkeit, die zu derartigen Auftritten im Schlafanzug führte, entsprach sie Bettys Idealbild einer Frau — bildhübsch, von durchschnittlicher Größe, fit und fähig, ohne dass die Männer sich von ihr eingeschüchtert fühlten.

Betty hingegen …

Als Kleinste der Warners maß sie eins fünfundachtzig an Körperhöhe und überragte damit selbst in Amerika die meisten Männer. An ihr Au-pair-Jahr in Frankreich getraute sie diesbezüglich gar nicht mehr zu denken. Einmal hatte sie in Südfrankreich einen regionalen Markt besucht und die Atmosphäre genossen — bis sie bemerkte, dass sie wie ein Leuchtturm aus einem Meer weit kleinerer Franzosen herausstach, die ihr alle unter dem ausgestreckten Arm durchlaufen konnten.

Na ja, fast alle.

Und dann war nicht abzustreiten, dass es ziemlich viel von Betty gab. Undersheriff in Coon County war ein Knochenjob, bei dem sie zupacken musste — insbesondere da ihr Vater, der gewählte Sheriff, im Rollstuhl saß und sie dadurch automatisch einen Teil seiner Pflichten übernahm.

War sie als junges Mädchen schlank und rank wie ein Weidenzweig gewesen, hatten die Jahre harter Arbeit Muskeln auf ihre Knochen gepackt. Die Doofköpfe, von denen es neben vielen netten Menschen leider einige im Bezirk gab, nannten sie deshalb Xena, nach der Kriegerkönigin der gleichnamigen Fernsehserie.

Der Vergleich war nicht allzu gemein, immerhin sah jene Xena gut aus und verdrosch routiniert mächtige Krieger und selbst Götter. Trotzdem tat er weh.

Kein Mann würde Betty jemals anschauen, als wäre sie zerbrechlich und müsste beschützt werden. Und die Wertschätzung als Saufkumpanin, die als eine der Letzten in der Runde unter den Tisch fiel, hatte nicht die gleiche Bedeutung.

«Betty?» Sie fühlte eine Hand auf dem Arm. «Du wolltest deinen Kollegen anrufen.»

Das war korrekt. Und ihm die traurige Nachricht vom Tod seines früheren Partners überbringen.

Sie erreichte ihn sofort. Kerrick nahm die Neuigkeit erstaunlich gelassen auf. «So sind es sechzehn Jahre geworden. Das ist beeindruckend», drang seine tiefe Stimme aus dem Lautsprecher des Smartphones. «Ich sah jedes Mal, wenn du uns hier besucht hast, wie gut es ihm bei dir gefiel und wie liebevoll du dich um ihn gekümmert hast. Danke, Betty.»

Kerrick meinte es so. Das erkannte sie am Tonfall. Seine Freundlichkeit ließ sie erneut aufschluchzen. Sie hatte sich Mühe gegeben. Das stimmte. Warum konnte sie dann das Gefühl nicht abschütteln, versagt zu haben?

«Niemand kommt gegen den Tod an», sagte Kerrick leise. «Und jeder Polizeibeamte, der seinen Ruhestand erleben und friedlich entschlafen darf, ist ein Sieg des Guten in dieser Welt.»

Damit hatte er recht. Hier in Coon County passten die Menschen aufeinander auf. Das war nicht überall so. Bereits in Saratoga Springs herrschten andere Sitten. Und dann erst in New York.

«Hör mal, Betty, ich weiß, ich sollte nichts sagen. Nicht jetzt, wenn dein Herz so wund ist. Aber wir suchen wieder einen Platz. Und es ist dringend. Können wir an der Trauerfeier für Boots darüber sprechen?»

«Was …?» Er wollte ihr einen weiteren vierbeinigen Kameraden anvertrauen?

«Sag jetzt nichts. Lass den Vorschlag auf dich wirken. Weißt du schon, wann du Boots’ Asche abholen kannst?»

Betty hatte Mühe sich zu erinnern. Ihr Kopf schien mit Melasse gefüllt. «Morgen Vormittag.»

«Dann plane ich die Trauerfeier für die Mittagszeit. Passt das für dich?»

«Ja.»

Sie vereinbarten alles Nötige und verabschiedeten sich.

«Klang das für dich auch seltsam?», wandte Betty sich an Josie, nachdem sie die Verbindung beendet hatte.

«Das nicht direkt, aber hinter seiner Bitte scheint mehr zu stecken, als er zugeben wollte.» Josie trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und schob die Tasse von sich. «Wie bekommst du das nur runter? Ich schaffe es selbst mit zehnfacher Verdünnung nicht. Du bist wie Ash. Mit seinem Kaffee kann man Farbe ablösen.»

Betty schnaubte. «Das ist der wahre Eignungstest beim Militär und den anderen Einsatzkräften. Vergiss die Fitnessprüfung und all das Zeugs. Wenn du Beize ohne ein Wimpernzucken trinken kannst, wirst du aufgenommen.»

Betty mochte die lakonische Antwort hinbekommen, doch in ihrem Innern sah es anders aus. Das war auch etwas, was ihr den Umgang mit Josie seit einigen Wochen erschwerte. Josie hatte einen wundervollen Mann gefunden — Ash, den Deputy Fire Chief von Coon County. Ehrlich, gewissenhaft, liebevoll und so sexy, dass Betty sich kaum an ihm sattsehen konnte, obwohl er nicht ihrem Typ entsprach.

Sie gönnte Josie das Glück von ganzem Herzen. Und war zugleich traurig, weil ein solches Glück für sie selbst unmöglich war. Sie fiel nicht ins Beuteschema der Männer. Keiner wollte eine wehrhafte Amazone.

So war es wahrscheinlich am besten, wenn sie dem Polizeihund, den Kerrick erwähnt hatte, ein neues Zuhause gab. Die Beziehung zu einem Tier war etwas ganz anderes als die zu einem Mann und konnte sie keinesfalls ersetzen. Trotzdem hatte sie sich in ihrer gemeinsamen Zeit mit Boots nie allein gefühlt.

Einen Versuch war es wert.

Ihr Telefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, meldete sich. Der Name auf dem Display erstaunte Betty.

«Was kann Jesse von mir wollen? Und dann um diese Uhrzeit», wunderte sie sich laut. Jesse hatte mit Ash gedient und arbeitete immer noch für das Militär. Betty hatte sie erst vor wenigen Tagen beim bunt zusammengewürfelten Thanksgiving-Fest der Warners kennengelernt und gleich total sympathisch gefunden, obwohl sie sich äußerlich nicht stärker unterscheiden konnten.

Jesse kam als winziges Paket. Die ehemalige Special-Forces-Soldatin erinnerte an einen platinblonden Punkkobold, war knallhart und absolut furchtlos. In den Hack-and-Slay-Rollenspielen, die Betty in ihrer Jugend auf dem Computer gespielt hatte, galt es auf solche Wesen aufzupassen. Sonst starb der Avatar, bevor man als Spieler «Was ist denn das Niedliches?» zu Ende denken konnte.

Betty hatte sich gut mit Jesse unterhalten. Es war erholsam, eine andere Frau zu treffen, die kompromisslos ihren Weg ging und sich von niemandem auf den Kopf scheißen ließ.

Gegen Ende des Fests hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht, dies falls es Betty jemals nach Virginia verschlug. Jesse arbeitete dort als Pilotin und hatte offenbar Zugriff auf eine flugtüchtige Spitfire aus dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Flug mit dieser Maschine gehörte zu Bettys größten Träumen. Sie liebte alte Technik.

«Willst du nicht abnehmen?», fragte Josie leise. «Ich glaube nicht, dass das per Telepathie funktioniert.»

Betty realisierte, dass sie ihr Telefon anstarrte. Gleichzeitig regte sich ihr Instinkt als Polizistin. Etwas an Josies Tonfall war seltsam. Und welcher Ausdruck war da über ihr Gesicht gehuscht? Schuldbewusstsein?

«Weißt du etwas davon?», fragte sie und zeigte auf den Bildschirm.

Josies Wangen röteten sich. «Es könnte sein, dass du dich mit Titel und Nachnamen melden willst.»

«Undersheriff Warner», nahm Betty mit ihrem professionellsten Polizeitonfall ab.

«Guten Morgen, Undersheriff Warner. Hier spricht Darko Chayton, einer von Asher Blakes Militärkameraden. Können Sie meinen Namen zuordnen?»

Gänsehaut überlief Bettys Arme. Was für eine Stimme! Verführerisch wie Samt und Schokolade.

Moment mal! Betty rief sich selbst zur Ordnung. Wo war der Gedanke hergekommen? Hatte sie sie noch alle? Offenbar verwirrte Boots’ Tod ihr den Verstand.

«Ja, wenn auch eher vage», zwang sie sich zu einer Antwort. «Sie waren vor Jahren mit meinem Cousin Ben hier in Dancing Coons. Unser Onkel erwähnt Sie ab und zu. Wir sind uns aber nicht persönlich begegnet, weil ich zu jener Zeit nicht in Coon County lebte.» Betty versuchte sich zu erinnern, ob sie damals ihr Au-pair-Jahr in Frankreich verbracht oder als Austauschpolizistin in New York gearbeitet hatte. Es gelang ihr nicht.

«Ja, das ist korrekt. Mit dem Besuch, meine ich.» Ein tiefes Durchatmen am anderen Ende der Verbindung. «Ich rufe Sie an, weil Jesse vor mir steht und eine Uzi auf mich richtet.»

Betty suchte Josies Blick. Ihre Nachbarin schaute entsetzt drein. Das hatte sie offenbar nicht erwartet.

«Wenn du mich schon verpetzt, dann sei präzise. Es handelt sich um eine Uzi mit montiertem Schalldämpfer», mischte sich die Stimme einer Frau ein. Betty erkannte sie und den kalten Tonfall sogleich.

Jesse.

«Welchen Unterschied macht der Schalldämpfer?», konnte sich Betty die angesichts der Bedrohungssituation irrelevante Frage nicht verkneifen. Als Polizistin gehörte Neugier zu ihrer Berufsbeschreibung. Zudem war es in ihrem Job wichtig, stets alle verfügbaren Fakten zu kennen.

«Dass es mir ernst ist.» Wieder Jesse.

Damit nahm das Gespräch für Betty absurde Formen an. Welchen Unterschied machte ein Schalldämpfer bei einem Maschinengewehr? «Die Uzi reicht dafür nicht?»

«So kann sie abdrücken, ohne dass jemand den Schuss hört», lieferte Darko Chayton die Erklärung. Die Wachsamkeit in seinem Tonfall ließ erahnen, dass er die Bedrohung ernst nahm.

Betty schüttelte irritiert den Kopf. Was sollte das alles? Es war an der Zeit, die Gesprächsführung zu übernehmen und den Grund für den seltsamen Anruf herauszufinden. «Wie kann ich Ihnen helfen, Mister Chayton?»

«Jesse hat mir gesagt, dass Ihnen für die Hochsaison ein Deputy fehlt. Ich bin per sofort bis Ende Februar temporär verfügbar.»

Eine kurze Ansage ohne irgendeine Absicherung, um das Gesicht zu wahren. Darko Chayton konnte nicht wissen, ob die Stelle noch frei war.

Was allerdings zutraf. Bettys Deputy hatte vor zwei Tagen erst gekündigt. Am 1. Dezember. Und verlangt, dass er seine Funktion sofort niederlegen konnte, um seinen neuen Job bei der Polizei von Saratoga Springs anzutreten. Ein Karrierist. Und leider nicht der erste.

Betty war so wütend und enttäuscht gewesen, dass sie ihn auf der Stelle entlassen hatte. Über die Jahre war sie vorsichtig geworden, wem sie ihr Vertrauen schenkte — auch beruflich.

Die meisten Mitglieder ihres Teams waren Einheimische und arbeiteten schon lange für Betty. Sie konnte sich blind auf diese Männer und Frauen verlassen. Da Coon County jedoch eine beliebte Tourismusdestination des Staates New York war und der Sheriff im Rollstuhl saß, benötigte Betty einen Senior Deputy, der mehr drauf hatte als der typische Polizist vom Land.

Und die Probleme mit der Besetzung dieser Position hörten nicht auf.

Betty ging die Kraft aus, sich immer wieder von Neuem auf jemanden einzulassen. Deshalb hatte sie die Stelle noch nicht einmal ausgeschrieben, obwohl die Wintersaison angelaufen war und die Arbeit sie zu erdrücken drohte.

«Undersheriff Warner? Sind Sie noch dran?»

Betty schreckte auf. Wie lange hatte sie in Gedanken versunken geschwiegen?

«Ja, Mister Chayton.» Betty wusste, dass sie tausend Fragen hätte stellen sollen. Daraus wurde eine einzige: «Wann können Sie anfangen?»

«Wenn ich ihn zu euch hochfliege, hast du ihn heute Mittag.» Jesse.

«Jesse, der Trailer …»

Die bis dahin perfekte Verbindung raschelte und knackste. Hatte sich Jesse das Mobiltelefon geschnappt?

«Halt die Klappe, Dark. Ich fliege dich jetzt da hoch. Und den Trailer bringe ich dir in den nächsten Tagen. Betty, wo kann ich den Hubschrauber bei euch landen und wie finden wir dich?»

Hubschrauber? Landen? Finden?

Betty riss sich zusammen. Sie kam sich vor, als wäre sie auf einem rasenden Karussell gefangen. Ohne irgendeine Möglichkeit abzusteigen.

«Erinnerst du dich an die Gegebenheiten von Dads Grundstück am See, wo wir Thanksgiving gefeiert haben? In Notfällen dient die Einfahrt Helikoptern als Landeplatz. Allerdings nur den kleinen mit einem Rotor. Für größere reicht der Lichtraum zwischen den Bäumen nicht.»

Bei Jesse war es nötig, solche Details zu erwähnen. Als geniale Pilotin konnte sie so ziemlich alles fliegen und es war nicht ausgeschlossen, dass sie mit einer zweimotorigen Chinook auftauchte, einem militärischen Transporthelikopter größer als ein Bus.

Jesse lachte nur. «Hey, easy. Ich nehme was Kleines und Schnelles. Bist du um zwölf Uhr dort?»

«Ja, kann ich machen.»

«Ein Deputy. Kommt sofort. Bis am Mittag.» Damit wurde die Verbindung unterbrochen.

[…]

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«Wintermärchen»

Dancing Coons

von Isa Day

 

Erscheinungsdatum: 17. Dezember 2021

ca. 400 Seiten

erhältlich bei Amazon als eBook. Das BoD-Taschenbuch befindet sich in Vorbereitung.

ISBN  978-3-906868-40-0 (eBook)

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